F. Jacob u.a. (Hg.): Die Wahrnehmung der Russischen Revolutionen 1917.

Cover
Titel
Die Wahrnehmung der Russischen Revolutionen 1917. Zwischen utopischen Träumen und erschütterter Ablehnung


Herausgeber
Jacob, Frank; Altieri, Riccardo
Reihe
Alternative Demokratien. Studien zur Geschichte der Sozialdemokratie und des Sozialismus (3)
Erschienen
Berlin 2019: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
450 S.
von
Heiko Haumann, Departement Geschichte, Universität Basel

Der Band widmet sich der Wahrnehmung der Russischen Revolutionen aus einer «kritischen geschichtswissenschaftlichen» Perspektive (S. 23). Die Herausgeber Frank Jacob, Professor für Globalgeschichte (19./20. Jahrhundert) an der Nord Universitet in Norwegen, und Riccardo Altieri, Doktorand an der Universität Potsdam, haben schon mehrfach zusammengearbeitet. Sie legen 17 Beiträge vor, welche die Wahrnehmung der Revolution in Deutschland, die Revolution und die Juden, lokale, soziale und transnationale Perspektiven sowie den theoretischen Diskurs mit Historiografie, Darstellung und Vermittlung der Revolution abdecken sollen. Nach welchen Kriterien die Auswahl der Beiträge erfolgt ist, erschliesst sich nicht und wird von den Herausgebern auch nicht erläutert. So zeigt der Sammelband eine grosse Bandbreite an Themen, die aber weitgehend unverbunden nebeneinander stehen.

Nur wenige Autorinnen und Autoren folgen dem moralischen Urteil der Herausgeber, das – in methodisch fragwürdiger Weise – Ausgangspunkt und Leitmotiv der Untersuchungen sein soll: «die Verderbtheit ihrer [der Revolutionäre] Ideale durch Lenin und seine bolschewistischen Gefolgsleute» (S. 14), «der finale Verrat der Ideale der Revolution» (S. 16). Lenin habe bereits «im Oktober 1917 wissent- und willentlich die Revolution verraten», die Macht «mit Terror gesichert», den «marxistischen Staat […] korrumpiert und zu einer Diktatur, der sich Stalin später nur noch bedienen musste, ausgebaut» (S. 17). Diese Fixierung auf einen fast dämonisierten Lenin und auf die Bolschewiki als eine homogene Gruppe entspricht nicht dem Forschungsstand zu 1917 und den ersten Jahren danach. Zahlreiche Studien belegen im Übrigen, dass es nach der Oktoberrevolution keine einlinige Entwicklung hin zum Stalinismus gab, sondern immer wieder offene Situationen eintraten, die Alternativen möglich machten. Einige Autorinnen und Autoren setzen denn auch die von ihnen untersuchten Wahrnehmungen mit den jeweiligen historischen Verhältnissen in Beziehung. Ohnehin gelangen sie im Einzelnen vielfach zu wichtigen Ergebnissen.

Es ist nicht möglich, im Rahmen dieser Rezension sämtliche Beiträge vorzustellen. Nur einige Aspekte seien herausgegriffen. So ist die Distanz der Mehrheitssozialdemokratie zur Russischen Revolution schon oft dargestellt worden, ebenso die unterschiedlichen Positionen innerhalb der sozialistischen und kommunistischen Linken zwischen den Polen Wladimir Lenin und Rosa Luxemburg. Dazu finden sich im Sammelband immerhin interessante Differenzierungen, etwa von Lutz Häfner, der sich mit Wahrnehmungen der «russischen revolutionären Erfahrungsräume» (S. 115) in sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Deutschlands beschäftigt. Riccardo Altieri zeichnet sorgfältig die anfangs voneinander abweichenden Haltungen von Rosi Frölich-Wolfstein und Paul Frölich gegenüber Lenin und Luxemburg nach. Vincent Streichhahn kommt in seiner Rezeptionsgeschichte der Kontroverse zwischen Luxemburg und Lenin zu dem Ergebnis, dass es mehr Gemeinsamkeiten zwischen beiden gab, als gemeinhin angenommen wird. Die Unterschiede seien weniger prinzipieller Art als der jeweiligen historischen Situation geschuldet. Die eher «dogmatische» Rezeption erklärt er mit den politischen Kämpfen seit Beginn der 1920er Jahre. Auch Andreas Morgensterns Ausführungen zu der privatwirtschaftlich orientierten Konzeption eines kontinentaleuropäischen Wirtschaftsraumes unter Einbeziehung Russlands, die von Vertretern des revisionistischen Flügels der SPD in den Sozialistischen Monatsheften vorgelegt wurde, eröffnet neue Perspektiven. Klasseninteressen und kleinere Nationen spielten kaum eine Rolle, die Bolschewiki störten eher. Einen anderen Blick richtet Anke Napp auf die Revolutionswahrnehmung. Sie setzt sich mit deutschen Bildbändern – Bildrollen, die wie ein Film vorgeführt werden konnten und sich deshalb für die Propaganda eigneten – zum Thema Oktoberrevolution und ihre Folgen für die Zeit von 1929 bis 1941 auseinander. In ihrer präzisen Bildanalyse arbeitet die Autorin die antikommunistische Stossrichtung heraus, verbunden mit der Angst vor einer durch den kommunistischen Machtapparat gelenkten «seelenlosen, mechanisierten Masse » (S. 436). Die Verbindung von antijüdischer und antikommunistischer Orientierung in den Wahrnehmungen der Apostolischen Nuntiaturen in Deutschland, namentlich von Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII., belegt eindrucksvoll Christoph Valentin. Die Revolutionäre seien hauptsächlich von Juden gesteuert, die als «widerlich», «schlau» (S. 187) und «einfache Kriminelle» (S. 191) gekennzeichnet werden.

Weiterführend ist der Schwerpunkt, den mehrere Beiträge auf die Beschäftigung mit anarchistischen Bewegungen und Gedankengängen setzen. Diese werden immer noch viel zu selten erforscht, obwohl sie eine bedeutende Rolle im revolutionären Prozess spielten. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, sich vollständig auf dieses Themengebiet zu konzentrieren. Frank Jacob untersucht den Wandel in Emma Goldmanns (und Alexander Berkmanns) Blick auf die Russische Revolution von anfänglicher Zustimmung bis zur Gegnerschaft. Zugleich gibt er eine Übersicht über die Geschichte der anarchistischen Bewegung in Russland im Zusammenhang mit dem Revolutionsprozess. Mit seinen Untersuchungen will er dazu beitragen, in zukünftigen Revolutionen eine «Korrumption» wie bei der Oktoberrevolution zu vermeiden (S. 357). Damit knüpft er konsequent an sein in der Einleitung formuliertes moralisches Urteil als Leitmotiv seiner Arbeiten an. Carsten Schapkow arbeitet die Verbindung von anarchistischem mit jüdisch-messianischem Gedankengut bei Gustav Landauer heraus. Da er die Russischen Revolutionen von 1917 als einen «Wendepunkt aus jüdischer Perspektive» (S. 161) betrachtet, wäre es für die Leserinnen und Leser hilfreich gewesen, wenn er Landauers Stellenwert innerhalb jüdischer Einstellungen zu den Vorgängen in Russland skizziert hätte. Zwei Autoren besprechen die Rezeption der Oktoberrevolution in syndikalistischen Gewerkschaften: Jule Ehms wendet sich der 1919 gegründeten Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) zu und Richard Stoenescu der 1920 konstituierten Allgemeinen Arbeiter-Union Deutschlands (AAUD). Die FAUD war nach anfänglicher Begeisterung wesentlich kritischer gegenüber der Entwicklung in Russland eingestellt als die AAUD. Ihr ging die Revolution nicht weit genug, und sie lehnte den Staat ebenso ab wie die Wirtschaftspolitik oder die Unterdrückung linker Gruppen. Für sie stand die «Befreiung der ArbeiterInnen» im Mittelpunkt (S. 239). Die Bildung der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1922 bedeutete den endgültigen Bruch mit dem (Staats‐) Kommunismus. Zu dieser Zeit hatte auch die AAUD den Bruch vollzogen – nämlich auf dem Dritten Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1921 –, nachdem sie zunächst viele Massnahmen der Bolschewiki, sogar die Arbeitsarmeen, gutgeheissen hatte. Ausschlaggebend war hier die Erfahrung, von den Bolschewiki nicht «als gleichberechtigter Diskussions- und Gesprächspartner» (S. 263) angesehen zu werden, sowie die wachsende Einsicht, dass die Realität der russischen Verhältnisse nicht dem Anspruch gerecht wurde. Allerdings hatte der Bruch eine Spaltung der Bewegung zur Folge. Es bleibt zu hoffen, dass der Sammelband weitere Forschungen in diesem Bereich anregt.

Zitierweise:
Haumann, Heiko: Rezension zu: Jacob, Frank; Altieri, Riccardo (Hg.): Die Wahrnehmung der Russischen Revolutionen 1917. Zwischen utopischen Träumen und erschütterter Ablehnung, Berlin 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 384-386. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.

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